Schreyhals 28

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20. FEBRUAR 2011, FC BASEL – FC Sion

«Mich stört das Benimmdiktat»

Manuela Schiller ist Anwältin, Feministin und Politikerin der «Zürcher Alternativen Liste». Und sie ist bekannt als Kämpferin für die Rechte von Fussballfans. Ein Gespräch über die Abschaffung der Unschuldsvermutung, Gewalt, Frauenfeindlichkeit in den Stadien und darüber, was die Politszene von den Fans des FC Basel lernen kann.

WOZ: Auch 2010 machten Fussballfans Wochenende für Wochenende Schlagzeilen. Leserbriefschreiber fordern inzwischen gar in der WOZ: «Jetzt hört damit auf, diese Fans immer in Schutz zu nehmen. Es gibt Wichtigeres!» Warum kämpfen Sie so vehement dafür, dass Fans zu ihrem Recht kommen?

Manuela Schiller: 2004 kam ich zu diesem «Kundensegment». Im Bahnhof Altstetten wurden Hunderte Fans des FC Basel auf dem Weg zu einem Spiel eingekesselt und präventiv verhaftet. Diese Fans aus der Muttenzerkurve luden mich danach zusammen mit Leuten der Menschenrechtsgruppe Augenauf zu einem Treffen ein. Sie erzählten, was ihnen in Altstetten passiert war. Sie waren sich sicher: Derartiges habe es in der Schweiz noch nie gegeben. Ich entgegnete: Das stimmt nicht. Ich erzählte ihnen, was Gegnern, die zum Weltwirtschaftsgipfel in Davos anreisten, in Landquart passiert war – dieselbe Situation. Sie merkten: «Denen ging es tatsächlich genau gleich wie uns, aber weil es andere waren, hat es uns damals nicht interessiert. Und jetzt interessiert es die nicht, weil es uns betrifft.»

Die Linke hat sich für den Altstetter Kessel nicht interessiert?

Nein. Dabei passierte zweimal exakt dasselbe: Leute, die mit einem SBB-Zug gefahren sind, die ein Ticket hatten, die also gar nichts verbrochen haben, wurden eingekesselt. Man sucht sich eine Gruppe von Leuten aus, welche die Medien und die Öffentlichkeit gerade als nicht schützenswert betrachten, und wendet den Repressionsapparat an, testet neue Polizeistrategien.

Seither haben Sie Hunderte Fussballfans verteidigt, darunter auch bekannte Hooligans.

Damit wir uns verstehen: Ich kann mit Hooliganismus wirklich nichts anfangen. Dieses ganze Kampfsportgetue verstehe ich überhaupt nicht, und ich bin froh, wenn ich damit so wenig wie möglich zu tun habe. Doch vom Standpunkt der Strafverteidigerin aus hat jeder ein Recht darauf, dass der Rechtsstaat korrekt angewendet wird. Das ist eine direkte Kritik an der linken, der fortschrittlichen, der feministischen Szene: Wir halten diese Prinzipien hoch, aber wir sind bereit, sie über Bord zu werfen, wenn solche, die uns nicht genehm sind, ins Visier geraten.

Erklären Sie das.

Es gibt den Grundsatz, dass jeder als unschuldig gilt, dass der Staat die Schuld eines Einzelnen beweisen
muss. Weil das bei Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen sehr schwierig ist, wenn der Täter sie abstreitet,
sind fortschrittliche Frauen und Männer bereit, eine Umkehr der Beweislast zuzulassen: dass also der Verdächtige beweisen muss, dass er unschuldig ist. Bei Geldwäscherei, dem Bankgeheimnis, bei Sachen also, die wir Linken kritisieren, sind wir auch bereit, zu glauben, dass, wo Rauch ist, auch Feuer sei.

Aber nur weil ein Abfallsünder erwischt werden könnte, bin ich nicht plötzlich für Videoüberwachung.

Ein Prinzip also, das wir nicht gelten lassen wollen, wenn es auf uns angewendet wird. Und ein ganz praktisches Beispiel aus Zürichs Strassen: Wer hat in Zürich als Erste die öffentliche Videoüberwachung gefordert?

Die Rechten?

Nein. Grüne Exponenten.

Die Grünen?

Sie riefen nach Kameras, um bei Sammelstellen Abfallsünder zu überwachen. Aber nur weil ein Abfallsünder erwischt werden könnte, bin ich nicht plötzlich für Videoüberwachung.

Woher kommt Ihre anhaltende Konzentration auf den Fussball?

Ich wurde während der Zürcher Bewegung 1980 politisiert. Damals gab es viele Demonstrationen, eine grosse politische Auseinandersetzung. Ich nahm fast wöchentlich an Demos und Aktionen teil. Das hat massiv abgenommen. Viele junge Leute «bewegen» sich heute in Fussballstadien – und werden mitunter kriminalisiert. Vergessen Sie nicht: Das ist genau das, was während der Achtzigerbewegung passiert ist. Damals wurden Tausende junge Leute kriminalisiert. Im Widerstand gegen die Kriminalisierung könnte die Politszene von den Fans etwas lernen.

Was könnte sie lernen?

In der Fanszene sind der Respekt und die Zuverlässigkeit, der lange Atem, etwas durchzuziehen, grösser. Nach dem Kessel in Landquart wollten Kollegen von mir einen Prozess anstreben, so wie ich es nach dem Kessel von Altstetten getan habe. Es hat nicht gut funktioniert. Fast niemand wollte mit Namen hinstehen und die Sache bis zum Ende durchziehen. Die Leute der Muttenzerkurve hingegen haben über die Jahre hinweg mehrfach Geld gesammelt, haben mich eingeladen, haben mit mir besprochen, wie es weitergeht. Niemand ist abgesprungen. Dies, obwohl ich von Anfang an nichts beschönigt habe: Ich habe klipp und klar gesagt, die Chancen, dass die Polizei dafür zur Rechenschaft gezogen werde, stünden schlecht. Am Schluss haben wir in allen Bereichen Teilerfolge erzielt.

Die St. Galler Repressionspolitikerin Karin Keller-Sutter hat sich mit dem Thema «Hooligans» ihre Bundesratskandidatur aufgebaut. Sie ist der Meinung: Die Fans in den Stadienkurven gefährden die Sicherheit des Landes. Zudem sei die Stimmung in den Kurven latent rassistisch und frauenfeindlich.

Das stimmt so generell einfach nicht.

In St. Gallen skandiert die Kurve, Frauen wie Männer: «Karin Keller-Sutter, du Hure!» Die Betroffene sagt, diese Angriffe seien deshalb so heftig, weil sie eine Frau sei. Solche Gesänge gehörten verbannt.

Ob nun «Hure» oder «Hurensohn» – ich finde, beides sagt man nicht. Ist es aber Aufgabe des Staats, hier einzugreifen?
In der Stadt Zürich arbeitet die rot-grüne Regierung seit Jahren mit dem Slogan «Erlaubt ist, was nicht stört». Ich kann vieles unterschreiben, was an Störendem aufgeführt wird: Littering, Rücksichtslosigkeit. Aber mich stört das staatliche Benimm-Diktat. Da kriege ich einen Abwehrreflex. Man kann von mir aus mit gutem Beispiel vorangehen, aber man kann nicht alles sanktionieren. Die Jugend brauchte immer Freiräume. Und jetzt muss ich Ihnen ehrlich und vielleicht politisch unkorrekt sagen, dass ich es trotz allem nicht so schlimm finde, wenn man «Hure» als Schimpfwort benutzt.

Warum nicht?

Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der nicht mehr so gesprochen wird. Doch man kann trotz politisch höchst korrektem Benehmen im Handeln genauso oder anders frauenfeindlich sein. Unsere Gesellschaft ist ja nach wie vor sehr frauenfeindlich. Warum hat es in meinem Bereich viel mehr Jusstudentinnen, die abschliessen, aber später viel weniger Anwältinnen als Anwälte? Warum stehen an der Spitze viel weniger Frauen als Männer? Warum ist es bei der Familiengründung nach wie vor so, dass es eher die Frau ist, die die Arbeit reduziert oder gar aus dem Berufsleben aussteigt? Da wird nicht «Hure» gesagt, die Entscheidungsmechanismen sind scheinbar höchst zivilisiert. Das Ergebnis ist trotzdem frauenfeindlich. Vor allem bei jungen Leuten macht es doch einen Unterschied, wie einer frauenverachtend ist. Ist er es bloss mit Worten? Dann legt sich das doch häufig. Oder ist er es im Handeln? Oder in beidem?

Dann glauben Sie nicht, dass die Kultur in den Schweizer Stadien die Sicherheit des Landes gefährdet?

Quatsch. Es ist in den letzten Jahren Folgendes passiert: Es ist plötzlich angesagt, in die Kurven zu gehen, es hat Studenten, viele Frauen, kulturell interessierte Leute, sehr viele Jugendliche – es ist eine Art Jugendbewegung, eine riesige Subkultur, und die Jugendlichen engagieren sich dort auf eine Art und Weise, die während meiner Jugendzeit ganz klar politisch war: Sie malen Transparente, produzieren Choreografien, texten neue Slogans, Lieder, rund herum entstehen Bands, die ein Teil der Kurve sind oder gar durch die Kurve bekannt geworden sind. Das hat es früher nicht gegeben. Ich bin seit Jahren eine treue FCZ-Anhängerin, und ich finde das keine negative Entwicklung. Natürlich nehmen gerade die Jungen unter den Fans für sich in Anspruch, was wir früher als Bewegte auch in Anspruch genommen
haben: dass wir uns nicht an alle Regeln halten. Da kann es schon sein, dass gesprayt wird oder dass oft das Pyrotechnikverbot nicht eingehalten wird. Man nimmt die Staatsgewalt, manchmal zu Recht und manchmal auch zu Unrecht, nicht ernst. Was uns als Linke dabei befremdet, ist ja vor allem eines: Warum tun die das für den Fussball? Aber da müssten wir eher uns selbst die Frage stellen: Warum ist es heute für viele junge Leute nicht mehr interessant oder gar abschreckend, sich politisch zu engagieren?

Entspricht das Engagement in den Kurven – gerade in der Auseinandersetzung mit der Repression – nicht teilweise einem politischen Engagement?

Es findet zumindest eine Sensibilisierung statt, die über den Fussball hinausgeht. Im Vorfeld der Ausschaffungsinitiative habe ich an 350 Leute meiner Fussballklientel einen Brief verschickt, in dem ich darlegte, weshalb ich zweimal Nein stimme. Es war ein deutlicher Brief. Ich schrieb, wer hier aufwächst, wer hier lebt und wohnt, gehört zu uns, egal, ob er ein Mörder oder ein Fussballprofi ist. Und dass jemand, der zu uns gehört, auch hier bestraft werden soll. Ich habe auf diesen Brief keine einzige negative, aber erstaunlich viele positive Reaktionen bekommen, per Mail, per Post, per Telefon. Ein Hooligan sagte zu mir: «In meinem Bekanntenkreis stimmen die meisten Ja, ich kann das absolut nicht nachvollziehen. Ich glaube, ich muss das politische Lager wechseln.» In den Fanforen des FC Basel und des FC Zürich fand eine sehr kontroverse, teilweise dumme, teilweise aber hochstehende Debatte zu diesem Thema statt. Ich behaupte, dass der Zweimal-Nein-Anteil in der Fanszene aufgrund negativer Erfahrungen mit der Staatsgewalt oder den Medien vergleichsweise hoch war. Die Leute merken, dass es nicht genügt, sich nur dann gegen Willkür oder Unverhältnismässigkeit zu wehren, wenn man persönlich davon betroffen ist.

Mit Manuela Schiller gesprochen hat Daniel Ryser. Das Interview erschien in der WOZ vom 23.12.2010.