Schreyhals 23
20. FEBRUAR 2010, FC BASEL – FC Aarau
Die Schweiz, der Fussball und die Nullerjahre
Die Nullerjahre werden vielerorts als Dekade der Zerstörung verschrien. Finanzkrise, Anti-Terror-Krieg, Climagate, Wettskandale. Etwas mehr als 10 Jahre nach feuchtfröhlichen Y2K-Parties zieht der Schreyhals Bilanz, was denn dieses Jahrzehnt dem Schweizer Fussball gebracht oder eben auch weggenommen hat.
1 FC Sankt Gallen 54
2 Lausanne-Sports 44
3 FC Basel 40
4 GC 37
5 FC Luzern 31
6 Servette FC 31
7 Neuchâtel Xamax 29
8 Yverdon-Sports 22
Ein Blick auf das Klassement am Ende der Finalrunde 99/00 kann beim nostalgischen Fussballfan auf zweierlei Arten Wehmut wecken. Da wäre zum einen die Evidenz, dass mit Lausanne-Sports und Servette FC gleich zwei renommierte Teams aus der Romandie 10 Jahre später nur noch eine untergeordnete Rolle spielen, zum anderen die Erinnerung an eine Zeit, als der Strichkampf noch nervenaufreibende Schlussphasen versprach.
Jeweils im Spätherbst begann zwischen Rüebliland und dem Lac Leman das grosse Zittern.
Der Spielbetrieb wurde von der National-Liga in der NLA sowie der NLB organisiert, eine Auf- / Abstiegsrunde entschied über sein oder nicht sein. Jeweils im Spätherbst begann zwischen Rüebliland und dem Lac Leman das grosse Zittern.
Zu dieser Zeit sind Atomstrom und Dosenbach noch genauso weit entfernt wie der «schleichende» Anglizismus. Mit der Modusänderung anno 2003, welcher die Liga von bisher 12 auf neu 10 Klubs reduziert und den Strichkampf sowie die Auf-/Abstiegsrunde abschafft, beginnt auch die Hochkonjunktur englischer Ausdrücke.
Besagte Modusänderung ist auch heute noch nicht gänzlich unumstritten, und die Wiedereinführung der 12er-Liga weiterhin auf der Agenda der Liga. Erst im August vergangenen Jahres meinte der aktuelle Präsident, Thomas Grimm, zu diesem Thema, dass er «noch keinen überzeugenden Vorschlag für einen neuen Modus ohne Strich gehört habe – 33 Runden? 44 Runden? Das eine ist unpraktisch, das andere geht zeitlich nicht. Also bleibt eine Lösung mit Strich, wie es das früher gab, entweder innerhalb der höchsten Spielklasse oder mit Auf-/Abstiegsrunde.» (Vgl. WOZ vom 06.08.2009).
Nicht nur die Westschweiz musste einen Aderlass verzeichnen. Nachdem sowohl Christian Gimenez als auch Hernan Rossi Anfang 2000 mit dem FC Lugano in der höchsten Schweizer Spielklasse für Furore sorgten (und bald darauf ans Rheinknie wechselten), musste der Klub Anfang 2003 Insolvenz anmelden. Ein ominöser Investor aus Rom (Pietro Belardelli) sowie die Veruntreuung von enormen Millionenbeträgen durch den (mittlerweilen verstorbenen) Vereinspräsidenten Helios Jermini führten zum (vermeintlichen) Tod des FC Lugano. 2003 gelingt Malcantone-Agno der Aufstieg in die zweithöchste Spielklasse, kurz darauf folgt die Fusion mit dem konkursiten Traditionsklub unter dem Namen AC Lugano. Pünktlich zum 100-jährigen Jubiläum im Sommer 2008 stimmen sämtliche Instanzen der Rückkehr zum neuen, alten Namen zu – unter dem Monte San Salvatore findet die Reinkarnation des FC Lugano statt.
Der Schweizer Fussball wird in den letzten 10 Jahren immer konkurrenzfähiger. 2002 wird man in Dänemark U-17 Europameister, jüngst in Nigeria sogar Weltmeister in derselben Kategorie. Die A-Nationalmannschaft qualifiziert sich mit einer gewissen Konstanz seit 2002 für Endrunden. Belegt man zu Beginn dieser Dekade noch den 48. Rang, so fungiert man per Dezember 2009 auf dem 18. Rang der Weltrangliste. Auf Klubebene beschert unser FC Basel mit seinen Auftritten dem Schweizer Fussball 02/03 neues Ansehen. Über die Slowakei (Zilina) und Schottland (Celtic Glasgow) qualifizierte man sich als 2. Schweizer Team überhaupt für die Gruppenphase der europäischen Königsklasse. Dort konnte man das grosse Liverpool auf den 3. Rang verweisen und erstmals unter die besten 16 Teams von Europa vorstossen, wo man aufgrund des schlechteren Torverhältnisses gegenüber der Juve nur knapp den Einzug in die Viertelfinals verpasst. Auch sonst sind Schweizer Klubs immer öfters im Europa vertreten, zumindest im Europapokal.
An dieser Professionalisierung kommen auch die hiesigen Stadien nicht vorbei. Zwischen Frühling 2001 (Joggeli) und Sommer 2008 (Espenmoos) verschwinden in sämtlichen Himmelsrichtungen Heimstätten. Ansprüche an Sicherheit, Infrastruktur und nicht zuletzt auch ökonomische Überlegungen lassen nach und nach Hardtürme, Wankdörfer und Allmenden durch Arenen und Parks mit Mantelnutzung ersetzen.
Zwischen Frühling 2001 (Joggeli) und Sommer 2008 (Espenmoos) verschwinden in sämtlichen Himmelsrichtungen Heimstätten.
Hybridstadien, welche Einkauf, Heirat und Altersresidenz in einem anbieten. Dabei beginnt je länger je mehr auch die Vormachtstellung von Naturrasen zu bröckeln (so ist auch für das neue Luzerner Stadion ein Kunstrasen geplant).
Ganz allgemein, die Vermarktung von Fussball nimmt (auch) in der Schweiz immer mehr zu. Schon vor der Jahrtausendwende überträgt Sat.1 Schweiz ein Spiel pro Wochenende in sämtliche Schweizer Stuben, zwar noch für alle empfänglich, wenn auch das Übel von kurzfristigen Spielverschiebungen und diktierten Anspielzeiten hier seinen Lauf nimmt. Auf die Saison 06 / 07 hin erobert das Bezahlfernsehen den Schweizer Markt, der Service wird kontinuierlich ausgebaut. Auch der Schweizer Cup, welcher seit 1925 auf diesen Namen hört, wird von diesem Vermarktungswahn nicht verschont, und 2003 auf Swisscom Cup umgetauft. Zum Glück wurde dieses Engagement 2008 beendet, es bleibt jedoch abzuwarten, wie lange es dauert, bis sich der nächste Namensgeber finden lässt.
Praktisch im Gleichschritt mit dem Geschehen auf dem Platz verändert sich auch das Bild der Kurven innerhalb dieser Dekade. Waren Anfangs 2000 die Fanszenen entweder gänzlich abwesend oder zumindest im Umbruch, so sind aktive Fans heute ein essentieller Bestandteil und haben die Kurven dauerhaft geprägt. Die Einflüsse der südländischen Ultrakultur wurden immer öfter adaptiert. Sowohl Choreographien als auch der Einsatz von Pyrotechnik werden immer aufwendiger inszeniert, die Fanszenen immer grösser.
Doch beginnt sich mit diesem Zulauf auch eine Spirale von Gewalt, Überwachung und repressiven Massnahmen zu drehen. Obwohl schon früh damit begonnen wird, diese Bewegung zu kriminalisieren, scheinen sowohl Politik als auch die Vereine machtlos. 2002 schickt Rene C. Jäggi zum ersten Mal private Sicherheitskräfte mit, welche die FCB Fans auf Ihren Auswärtsspielen begleiten, dazu wird ebenfalls zum ersten Mal ein Fanpass beim FCB eingeführt. Die Hilflosigkeit von Verbänden, Klubs und Medien nimmt im Laufe der Jahre keineswegs ab, und so wird dieses Vorhaben für die Saison 2006 erneut lanciert, diesmal auf Nationaler Ebene. Grund dafür sind die Ausschreitungen im Anschluss an das Spiel FCB – FCZ vom 13. Mai 2006. Bedenkt man, dass diese Massnahmen nach lediglich drei gespielten Runden wieder ad acta gelegt werden, so wird jeder Kommentar überflüssig. Auf die Saison 2011/2012 hin ist im Rahmen der Schweizer Policy gegen Gewalt im Sport erneut eine Fancard geplant – zusammen mit Alkoholverbot, Kombitickets für die Anreise, kantonseigenen Spottern und Zugbegleitern …
Der Prosperität hiesiger Fanszenen konnten die immer repressiveren Massnahmen genauso wenig anhaben wie der undifferenzierte Journalismus, welcher von gewissen Medien betrieben wird. Gezündet wird schon längere Zeit praktisch von allen grösseren Szenen in regelmässigen Abständen, der Einsatz von Pyrotechnik geschieht dabei meist verantwortungsvoll.
Ebenfalls gewandelt haben sich sowohl Melodien als auch Texte. Deutsche Gassenhauer werden mehr und mehr durch individuelles und lokales Liedgut ersetzt. Dauersupport ist die neue Doktrin. Megaphone bekommen Unterstüzung durch Anlagen, der Gesang ist koordinierter denn je. Diese neuen Methoden stossen auf regen Zuspruch, die Beteiligung in den Kurven wird grösser, dennoch bleibt das Thema kontrovers, die Meinungen gehen auseinander, es öffnen sich Gräben zwischen «alt und jung», auch im Schreyhals wird dies immer wieder thematisiert.
Viele Kurven haben sich den gegebenen Umständen angepasst. Zwangsläufig bedeutete dies auch, viel organisierter als noch Anfang 2000 aufzutreten, und im Hinblick auf die Zukunft muss wohl noch überlegter agiert werden. Die Kredite in Politik und Gesellschaft sind nicht erst seit den jüngsten Ausschreitungen beim Spiel FCB – FCZ verspielt, schon länger beginnt sich die repressive Schraube anzuziehen. Begriffe wie Schnellrichter, Internetfahndung oder Rayonverbote gehören schon länger zum guten Ton in der Kaste der sich profilierenden Akteure sämtlicher politischer Couleur. Man darf gespannt sein, wie sich diese Entwicklung fortsetzen wird …
Vieles hat sich verändert in diesen 10 Jahren. Genauso wie die Gesellschaft kann sich auch der Fussball diesem Wandel nicht entziehen.
Was sicher geblieben ist – und auch bleiben wird – ist die Faszination für diesen Sport.