Schreyhals 37

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7. OKTOBER 2012, FC BASEL 1893 – Servette FC

Von Kuhglocken, Bauernlümmeln und Secondos

Die Schweizer Nati ist gut in die WM-Qualifikation gestartet – na und. Ein paar Gedanken zur Landesauswahl, einem Thema welches viele zwar nicht kümmert, aber kaum kalt lässt.

Kein Fussballfan kann sich ihr entziehen. Sie gehört ein Stück weit zum Spiel, wie die Eier an Ostern. Jaja, die Nati. Viele Jahre habe ich mich von ihr distanziert oder es zumindest versucht. Schliesslich ist der FCB das einzig Wahre. Und die Nationalmannschaft nur ein zusammengewürfelter Haufen von Akteuren verschiedener Vereine, der den Auftrag hat, den Schweizerischen Fussballverband – möglichst erfolgreich – zu vertreten. Also genau jenen Verband, der mir und den anderen Fans den vielen Ärger rund um Pyros, Kommerzialisierung, Bussen, hohe Eintrittspreise und beschissene Anspielzeiten beschert. Und dann noch die bünzlihaften Fans mit bemalten Gesichtern und Kuhglocken; diese sind mir genau so ein Graus wie besoffene Party-Patrioten und Guggenmusiken aus dem Hinterthurgau. Und doch, irgendwie weiss man immer Bescheid.
Es war ja auch nicht immer so. In meiner Kindheit waren die Spiele der Nati schon noch etwas Besonderes. Sie fanden meistens am Mittwoch statt, was nichts Geringeres bedeutete, als länger aufbleiben zu dürfen. Schon am Sonntag berichtete das Sportpanorama vom Nati-Trainingslager. Dazu tägliche Radio- und Zeitungsmeldungen über Formstand, Aufstellung, Taktik und Tabellenstand. Bis dann endlich Mittwochabend war und die metallisch schäppernde Stimme von Thurnheer oder Hüppi aus dem fernen Sofia oder Baku die schlechte Tonqualität entschuldigte. Dann schwenkte die Kamera in eine trostlose Ecke des riesigen aber fast menschenleeren Stadions, wo ein paar unentwegte Schweizer Fans gesichtet wurden, die man damals noch Schlachtenbummler nannte.
Und es gab Zeiten, da war die Nati recht gut. So etwa vor zwanzig Jahren unter den Trainern Stielike oder Hodgson. Und mit Spielern wie Alain Sutter (heute Frisurenexperte), Stéphane Chapuisat (Nichtraucher), Ciri Sforza (Hausmann), nein ernsthaft, mit Alain Geiger und Dominique Herr, dem steinharten Innenverteidigerduo, dem pfeilschnellen Marc Hottiger, dem routinierten Georges Bregy oder dem cleveren Christophe Ohrel und nicht zuletzt Adrian Knup, der heute im FCB-Vorstand sitzt, hatte die Schweiz eine Nati, die international konkurrenzfähig war. Ihr gelang die Qualifikation für die WM 1994 in den USA: Zum ersten Mal seit 28 Jahren war die Schweiz wieder an einem internationalen Turnier dabei.
Ich glaube, unter dem Hype war da so etwas wie tiefe Freude. Für uns Kinder damals etwa so, wie wenn der FCB einfach aus heiterem Himmel Manchester United vom Feld fegt.

Als Land, als Nation

Jedes Land hat eine Nationalmannschaft. Erst die Landesauswahl macht den Verband eines Landes zu einem vollwertigen Mitglied der internationalen «Fussballfamilie». Die Auswahl repräsentiert den Verband. Und da Fussball der wichtigste Sport der Welt ist, hat eine Nationalmannschaft auch eine sportkulturelle Bedeutung. Sie kann ein Land prägen. Vielleicht sogar mehr. Vielleicht bietet der Erfolg einer Nationalmannschaft der Bevölkerung eines Landes mehr als nur Spannung und Unterhaltung. Vielleicht war Deutschland nach dem Krieg und nach der Wiedervereinigung erst wieder eine Nation, als die Nationalmannschaft Spiele gegen andere Nationen austragen durfte. Die Deutschen wurden 1954 dann auch noch Weltmeister. In der Schweiz. Frankreich wurde 1998 im eigenen Land Weltmeister. Im Vorfeld des Turniers monierten rechtsextreme Politiker, dass die französische Mannschaft gar keine französische sei. Die vielen Spieler nord- oder schwarzafrikanischer Herkunft würden Frankreich nicht angemessen repräsentieren, es sei keine «equipe tricolore». Was für ein Blödsinn, wenn man an den formidablen Zidane oder den bärenstarken Thuram denkt. So wurde aus der blau-weiss-roten Trikolore die «black-blanc-beur» (Deutsch für: schwarz-weiss-arabisch.), sie alle waren Frankreich und sie machten das Land stolz. Und welches Hochgefühl musste es für hunderttausende italienischer Gastarbeiter gewesen sein, als Italien 1982 Weltmeister wurde? Man sagt, dass jener Tag aus den «Tschinggen» halbwegs respektierte Mitmenschen machte.

Man kann sich jetzt die Frage stellen, ob es generell sinnvoll ist, ein geeintes Land zu sein, in einer globalisierten Welt und einem auf Tod und Verderben miteinander verstricktem Europa.

Die Spanier dominieren seit sechs Jahren fast jeden Gegner nach Belieben. Es resultierten zwei Europa- und ein Weltmeistertitel. Eine grosse Genugtuung für das Land auf der iberischen Halbinsel mit einer bewegten Geschichte, vier Sprachen und teilautonomen Republiken. Der Erfolg der Mannschaft, so sagt man, bringt das geteilte Land in der Krise ein wenig näher zusammen. Seit die Spanier 2006 im Achtelfinale gegen Frankreich ausgeschieden sind, haben sie bei einer Endrunde nur ein einziges Spiel verloren – 2010 gegen die Schweiz.
Man kann sich jetzt die Frage stellen, ob es generell sinnvoll ist, ein geeintes Land zu sein, in einer globalisierten Welt und einem auf Tod und Verderben miteinander verstricktem Europa. Etwa für uns Basler mit oder ohne roten Pass, durch die Jurakette von der Restschweiz abgetrennt. Was haben wir mit dem Rest der Deutschschweiz am Hut – ausser der in Ansätzen ähnlichen Sprache und der gemeinsamen Antipathie zu Zürich? Und trotzdem hoffen wir gemeinsam mit denen von dort doch eher auf einen Sieg der Schweizer Nati als dass wir mit den Lörrachern der Deutschen Elf die Daumen drücken. Vielleicht weil wir «d’Schwoobe» auch nicht sonderlich mögen.

Wir und die anderen

Ich habe sehr wenige Länderspiele live im Stadion gesehen. Und die haben mich nicht wirklich mitgerissen. Dieses Wir-Gefühl, wie ich es von FCB-Matches her kenne, es stellte sich nie ein – ganz im Gegensatz zu einem Spiel der Engländer, welches ich besuchte.
Möglich, dass dies früher anders war. So erzählen die älteren Generationen von FCB-Fans von Natispielen, an die man gemeinsam reiste und die Freunde der dritten Halbzeit berichten gerne von der einen oder anderen Auseinandersetzung gegen die Berner oder mit ihnen gegen Franzosen oder wer auch immer sich gerade «stellte». Zu dieser Zeit waren selbst Schweizerfahnen an den Zäunen der Kurven keine Seltenheit. Markiert mit den Initialen des Clubs, zu dem man sich zugehörig fühlte. Es ist kein Geheimnis, dass viele Fanszenen früher politisch rechts standen und – dies ist eine Vermutung meinerseits — die Unterstützung der Nati etwas ganz Normales war. Wohl auch, weil sich die Szenen Anfang der 90er Jahre am Geschehen in Deutschland orientierten, wo sich ein neues nationales Bewusstsein breitmachte. Aber auch die Schweiz begann sich zu verändern. Nach fast 50 Jahren Wirtschaftswachstum, Wohlstand und Frieden schlitterte das Land in die grösste Rezession seit den 30er-Jahren. In der Krise war die Fussballnati stark und hat das Land erfreut. Schön oder? Und eigentlich ist daran nichts Schlechtes zu sehen.
Und heute? Die Welt ist global geworden, und mit ihr ihre Krisen. Noch immer hat jedes Land seine Nationalmannschaft. Die meisten aktiven Fans aus den Kurven gehen aber nicht mehr zu ihr, viele begegnen ihr gar mit offener Abneigung. Dies ist gut verständlich, auch wenn man von den eingangs erwähnten Ärgernissen absieht. Wenn ich mir vorstelle ein  ganzes Spiel lang von Personen umgeben zu sein, um welche die Evolution einen grossen Bogen gemacht hat – ich glaube, es würde nicht gut enden. Auch das Thema, dass die Nationalspieler des FCB beim Durchschnittspublikum der Nati, sagen wir mal, einen schweren Stand haben, lässt nicht viel Gutes über diese Art von Veranstaltungen vermuten. Nur so kann ich mir erklären, dass ich ein Verhalten entwickelt habe, welches ich beim FCB nie an den Tag lege: Permanentes Motzen über die Leistung einzelner Spieler, verbunden mit der Hoffnung, dass die Nati doch gewinnt.

Luegsch au?

Die letzten Male hat sie es getan, wohl eher unspektakulär, aber hier und dort ist zu hören, dass es wieder «Spass mache, der Nati zuzuschauen». In Onlineforen wird über die Abstammung von Schweizer Nationalspieler diskutiert (Anm d. Red: siehe auch «On the origin of species» von C. Darwin). Und über die Bereitschaft der Spieler die Nationalhymne zu singen. Auch liest man von Stimmen, die lieber wieder eine «Schweizer» Nati hätten und sich über zu viele talentierte Immigrantensöhne echauffieren. Erbärmlich. Kleingeistig.
Aber die Nati macht Spass, so sagt es uns der Blick. Wohl auch, weil jetzt der Nationaltrainer für den Blick als Kolumnist schreibt, was dem Blick Spass macht. Auch Franz Beckenbauer war ja Teamchef und Kolumnist in Personalunion. Und weil vieles, nicht nur im Fussball, in der Schweiz einfach eine deutsche Kopie ist, muss es wohl gut sein. Und falls es nicht so sein sollte, naja, dann kann man darüber hinweg sehen.

Was würdest du tun, beim «Wunder von Rio»?

Zum Schluss noch ein kurzer Ausblick in die Zukunft. Bei anhaltend guten Leistungen oder einfach genügend Siegen in der Qualifikation wird es den Schweizern wohl oder übel gelingen, sich für die WM 2014 zu qualifizieren. Ein Teil der Schweiz, sicher auch ein grosser Teil derer, die sich sonst nicht für Fussball interessieren, wird dann mitfiebern. Und die, denen es egal ist, werden einfach zuschauen und über Fehlpässe fluchen. Vielleicht so wie 2010, beim Startsieg gegen Spanien aus heiterem Himmel. Oder wie 2006. Ich denke manchmal, wie es damals wohl hätte kommen können. Als die Nati sich ohne Gegentor für die Achtelfinals qualifizierte aber kläglich im Penaltyschiessen scheiterte. Was, wenn Marco Streller das mit der Zunge hätte sein lassen? Im Viertelfinal wäre die Schweiz auf Italien getroffen. Ein Gegner, gegen den man im Vorfeld eine sehr gute Leistung zeigte. Man stelle sich nur vor, was wohl passiert wäre in diesem Land, hätte die Nati das Viertelfinale überstanden … Vergleichbar mit einem Sieg des FCB im Hinspiel gegen Bayern. Wen hätte das kalt gelassen? Wäre eine nationale Euphorie entstanden? Wären die Schweizer plötzlich stolz geworden auf ihr Land? Hätten die Blick-Onlinekommentarschreiber dann einen oder zwei Tage über die Abfallsünder, Kügelidealer, die unfähigen Bundesräte und die linke Kuscheljustiz hinwegsehen können?
Was würdest du tun, beim «Wunder von Rio»? Wahrscheinlich auch zuschauen.