Schreyhals 25
13. MAI 2010, FC BASEL – Neuchâtel Xamax
Hier ist der Ort, wo die Welt unterging
Heute vor vier Jahren verlor der FCB in letzter Sekunde die Meisterschaft an den FCZ. Ein Ereignis, welches die Schweiz erschütterte und die Fanszene nachhaltig prägte. Ein Rückblick.
Ein FCB-Fan kann dieses Datum nicht vergessen, ein FCZ-Fan will es niemals vergessen: 13.5.2006. Es steht für ein schwarzes Loch oder den totalen Triumph, für einen Tag mit vielen Geschichten.
Vielleicht begann der 13. Mai schon am 12. Mai, als unsere Kantine «Zürcher Geschnetzeltes» servierte. Oder am 20. Dezember, als der FCB vom FCZ im Joggeli aus dem Cup geworfen wurde. Oder am 6. April, als ein gewisser Massimo Maccarone in der Nachspielzeit das 4:1 für Middlesbrough erzielte und der FCB aus dem Viertelfinale des UEFA-Cups warf… Nachspielzeit, oh Mann.
Chronik einer Tragödie
Der FCB startete mit einem Vorsprung von 8 Punkten auf den FCZ. Der Spielplan wollte, dass die beiden Teams in der 19. und in der 36. Runde aufeinander treffen. Die Rollen waren verteilt: der FCB mit dem klaren Ziel den Titelhattrick zu schaffen, die Zürcher als Spielverderber im Nacken. Zweckoptimistisch schien die Choreo der Zürcher an jenem kalten Februartag – «Mached uns zum Meischter und mir mache euch zu Götter» hiess es, das Spiel ging 1-1 aus.
Nach zweifelhaften Entscheiden von Schiedsrichtern und Verband blieb man in 16 Spiele ohne Niederlage. Wegen dem Erfolg im UEFA-Cup musste das Spiel gegen YB verschoben werden und fand zwei Tage vor dem letzten Match statt. Diese englische Woche nahm der FCB mit drei Punkten Vorsprung auf Zürich in Angriff. Aus drei Spielen mussten vier Punkte geholt werden. Schaffhausen wurde auswärts klar besiegt. In Bern hätte ein Punkt zur vorzeitigen Titelverteidigung gereicht. Mit einem 2:0 Rückstand gings in die Pause, dann gelang Sterjovski der Anschlusstreffer, wenig später setzte der Australier den Ball an den Pfosten – schlussendlich verlor Basel klar mit 4-2. Die Entscheidung war also nochmals vertagt.
Ein Tag im Mai
Zur Mittagszeit war es noch ein normaler Samstag. Ich war unterwegs zu einem der vielen Bolzplätze um selber noch aktiv auf dem Platz zu stehen, eine willkommene Ablenkung. Heute würde mich mein Chef ans Spiel begleiten, das war schon lange abgemacht. Da standen wir also vor dem Eingang, es fing an zu regnen. Hypernervös warte ich auf den Anpfiff, vor dem Chefs eins dampfend. Der Puls wird schneller. Dann das Intro, beide Seiten präsentieren eine Choreo. Die Muttenzerkurve zelebriert eine Meisterfeier im Vorfeld. Ein klares Zeichen, wir haben den Pokal bereits in unseren Händen. Bei Zürich heisst es nur «wie gseit, Götter und so.» Auch diese Message ist klar.
Halbzeit eins
Der Kampf beginnt, bereits nach einer Minute liegen Zanni und ein Zürcher am Boden. Zanni kriegt einen Verband, der andere wurde ausgewechselt – gut gemacht Reto! In der Anfangsphase leichte Vorteile für Zürich, doch der FCB hält dagegen. Der Block steht hinter der Mannschaft, bedingungslos. Ein ganzer Block? Nein, die GANZE Kurve, ein ganzes Stadion, eine ganze Stadt und noch viel mehr! Herzschlagfinale!
Zubi parierte den ersten Schuss auf dem seifigen Rasen sicher, das beruhigt. Aus einer sicheren Defensive das Spiel machen, so muss es heute gehen! Eine halbe Stunde durch, nach Punkten liegen wir vorne. Ich vergesse alles um mich herum, bin wie in Trance. Im Tiefschlaf dürfte dafür unsere Abwehr in der 31. Minute gewesen sein, als Keita, völlig frei zum 0:1 einschiebt. Scheisse! Rückstand, doch noch eine Stunde Zeit, noch mehr Dramatik, noch mehr Nervosität.
Vor der Pause hätte der FCB den Ausgleich erzielen MÜSSEN, Ergic und Delgado vergaben beste Möglichkeiten, aber es sollte nicht sein.
Hinsetzen, Zigarette, einen Moment Ruhe. Ein Versuch die Gedanken zu ordnen, zu entspannen, abzuschalten? Vergiss es, ich fühle mich, ja wie eigentlich – einfach zum Zerreissen gespannt.
Halbzeit zwei
Der FCB stürmte dem Ausgleich entgegen. Drückte, von 32’000 getragen, ist nun klar die stärkere Mannschaft mit guten Torchancen, doch allesamt wurden sie vergeben. Die Uhr fing nun langsam aber sicher an, gegen uns zu laufen. Ein Kopfball von Majstorovic auf die Lattenoberkante, leiden und doch weiter singen, schreien, alles geben, für Blau und Rot.
Das Stadion hielt den Atem an, es wurde gespenstisch ruhig, dann schien die Welt zusammenzubrechen.
Es folgt etwas noch nie Dagewesenes, es war die 72. Minute, Freistoss aus 25 Metern. Der Typ, den ich stets verachtete, steht beim Ball. Es dauerte ewig, bis die Mauer steht, ich bete leise. Dann lief Petric an, der Ball flog über die Mauer und war drin. Eine Ekstase wie ich sie noch nie erlebt hatte. Ich fiel irgendwem um den Hals und irgendwer, es gab kein Halten mehr. Ein Gefühl, warum sollte ich das überhaupt beschreiben? Who feels it knows it!
Der Rauch der Bengalen verzog sich, mein Puls schlug über meine Gurgel hinaus, wie geil ist denn das. Die Kurve lag sich in den Armen, es ist geschafft. Und das Wichtigste war, der FCB hörte nicht auf Fussball zu spielen. Er hatte das Spiel im Griff, er kämpfte weiter. Meine Nervosität wich mehr und mehr Gefühlen wie Stolz und Freude. Eigentlich hiess es jetzt nur noch warten und geniessen.
Die Nachspielzeit geht mir irgendwie am Arsch vorbei, ich umarme Leute, das Stadion feiert den Titel, nur Pessimisten finden, man solle noch nichts verschreien. 92 Minuten um, die Uhr läuft. Noch ein Befreiungsschlag in der eigenen Platzhälfte. Einwurf, noch 20 Sekunden. Der Ball liegt irgendwo an unserer Strafraumgrenze, ein Querschläger in den Strafraum zu Filipescu, der Ball war im Tor. Das Stadion hielt den Atem an, es wurde gespenstisch ruhig, dann schien die Welt zusammenzubrechen.
Es ist, was nicht sein dürfte
Es ist vorbei, der sichere Titel wurde uns entrissen. Ich beisse mir auf die Unterlippe. Alle Dämme brechen, die Katastrophe tritt ein. Fans aus der Kurve stürmen über den Platz und greifen die Zürcher an.
Tränengasschwaden hängen in der Luft, ein kleiner Junge kotzt mir vor die Schuhe.
Die Polizei steht auf dem Rasen, Tränengas und Gummischrot im Stadion. Auf dem Rasen knallt es heftig, vor dem Stadion geht eine Strassenschlacht der gröberen Sorte los.
Tränengasschwaden hängen in der Luft, ein kleiner Junge kotzt mir vor die Schuhe. Die Polizei hat die Situation zu keiner Zeit im Griff. Ich will weg von hier, mich ins Koma saufen, weg von allem was mich je daran erinnern könnte. Die Stadt erlebt einen unruhigen Abend, ich kann noch immer nicht fassen was passiert ist.
Zu Hause fühle ich mich wie blind, tapse herum, unruhig – als wäre ich ein gebrochener Mann.
Harte Zeiten
Irgendwann schlafe ich ein und erwache am späten Vormittag. Ich fühle mich leer, schaue die Tagesschau an, wieder Bilder von den Krawallen, man redet von einer Million Sachschaden.
Das ZDF bringt eine Dokumentation über einen Äthiopischen Kaffeebauern, der im Urwald Kaffee anpflanzt. Die Kinder laufen jeden Tag 3 Stunden zur Schule. Für seine Ernte kriegt er etwa 4 Euro im Monat – Wahnsinn! Dem geht’s noch viel schlechter als mir denke ich.
In den folgenden Tagen dominiert das Thema in den Medien. Jeder weiss wieder genau, was nun zu tun ist. Harte Strafen und Sanktionen werden gefordert. Der FCB erhält zwei Geisterspiele sowie drei Spielsperren für die Muttenzerkurve und eine hohe Busse.
Ein «runder Tisch» mit Vertretern des FCB, aus Politik und Sport, beschliesst im Juni diverse Massnahmen, darunter eine De-Anonymisierung, Registrierungspflicht der Muttenzerkurve, einen Fahnenpass und Sitzplätze. Wenig später doppelt die Liga nach und lanciert den Fanpass für alle Auswärtsfans – grossartig!
An einer Versammlung beschliessen 150 Fans aus der Muttenzerkurve künftig keine Heimspiele mehr zu besuchen und sich auswärts nicht mehr in den Gästeblock zu stellen. Beim ersten UEFA-Cupspiel protestieren über 300 Fans vor dem Stadion, die Kurve ist nicht mal zu einem Drittel gefüllt, was sich bis auf weiteres auch nicht ändern wird.
Aktion = Reaktion
Als am 20. Juli in Bern für den FCB die neue Saison beginnt, räumt YB kurzerhand einen ganzen Block für die nichtregistrierten FCB-Fans leer. In anderen Stadien setzen sich die Sicherheitschefs ebenfalls über die Ligabestimmungen hinweg – die Registrierung der Gästefans fällt schneller als sie eingeführt wurde. Die Clubs können dieses Vorhaben gar nicht umsetzen. Der erste Etappensieg ging an die Fans. Nun musste noch die Muttenzerkurve zurückerobert werden, der Boykott, ging friedlich und kreativ weiter.
Lösung mit Modellcharakter
Irgendwann musste der FCB handeln – mit den Fans, nicht gegen sie. Er merkte wohl, dass er seine Fanszene nicht austauschen kann, so wie dies einige Exponenten gern getan hätten und einseitige Massnahmen nichts bringen.
Am 22. September veröffentlichte der FCB ein Communique, das die Welt wieder in geordnete Bahnen rückte. Auf die De-Anonymisierung und den Fahnenpass wurde verzichtet. Stattdessen baut man auf gegenseitiges Vertrauen und regelmässige Gespräche zwischen Club und Fanvertretern.
Die Fans haben viel erreicht, doch nicht nur sie. Auch dem FCB dürfte bewusst geworden sein, was er an seiner Anhängerschaft hat. Dass sie mehr sind als einfach nur «Kunden» und er auf sie zählen und aufbauen kann.
Eigentlich sollte dieses Beispiel Schule machen – tut es aber nicht. Fast jeder Verein steht irgendwo im Clinch oder sogar im offenen Streit mit seinen Anhängern – das St.Galler-Choreoverbot lässt grüssen. Es ist leichter, in den Chor der Repressionsvögel wie Karin Keller-Sutter einzustimmen, als sich mit seinen Fans auseinanderzusetzen und ihnen zuzuhören. Eher versucht man, undurchdachte Schnellschüsse mit dem Vorschlaghammer durchzusetzen, als auf Kompromisse, gegenseitiges Vertrauen, Kommunikation und Transparenz zu setzen.
Und was bleibt nach diesem 13. Mai? Ich denke, dass wir hier und heute besser dastehen als die Fans des FCZ. Streitigkeiten mit der Clubführung und untereinander können gelöst werden, die Trendsetter sind aus der Kurve verschwunden. Und während wir uns über jeden Titel freuen können, müssen die Zürcher wohl einsehen, dass es für sie wohl kein schöneres Erlebnis mehr geben wird als an jenem Samstag im Mai.